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ILLEGAL. Street Art Graffiti 1960-1995: Thematische Ausstellung und Publikation

, by Katia Hermann

Die thematische Ausstellung „ILLEGAL. Street Art Graffiti 1960-1995“ im Historischen Museum Saar läuft noch bis zum 25. Februar 2025. Zu diesem Anlass veröffentlichte der Kurator der Ausstellung Ulrich Blanché im Mai 2024 den gleichnamigen Katalog im Hirmer Verlag. Mit thematischen Beiträgen von fünf Autoren auf Deutsch und Englisch mit Abbildungen von Werken aus der Ausstellung und Archivbildern – bekannte und weniger bekannte Werke von Vorläufern der Street Art – werden hier die Protagonisten genannt, die schon früh und weltweit in den Jahren 1960 bis 1995 künstlerisch aktiv im öffentlichen Raum waren. Darunter Street-Art-Künstler*innen und Graffiti Writer*innen der ersten Stunde in den USA und Europa, aber auch Ganggraffiti in L. A. aus den 60er/70er Jahren wird hier z. B. nicht ausgeklammert. Zudem werden auch bildende Künstler*innen thematisiert, die in den 60er Jahren ihre künstlerischen Aktivitäten auf die Straße erweiterten, wie vor allem in Frankreich und den USA.



Darüber hinaus widmete der Kunsthistoriker Ulrich Blanché seine Recherchen auch modernen Künstlern, die sich schon ab den 30/40er Jahren mit geritztem und gezeichnetem Graffiti auf Wänden von Anonymen befassten und inspirieren ließen – wie der ungarische Fotograf und Künstler Brassaï in Paris und sein Freund Picasso. Denn diese sorgten u. a. dafür, dass Graffiti in der Kunstwelt überhaupt erstmals thematisiert wurde.

Der Begriff Street Art wurde zwar schon in den 70er/80er Jahren für einzelne Protagonisten hauptsächlich in den USA verwendet, aber erst in den 2000er Jahren mit dem sich weltweit entwickelten Phänomen populär. Der Begriff beschreibt illegal angebrachte Werke im öffentlichen Raum, die mit verschiedenen Techniken und Materialien wie Sprühlack, Farbe, Schablonen, Papierarbeiten (Paste ups) zweidimensional (oder als plastische Arbeiten) geschaffen werden. Manchmal eben auch von Akteuren mit einem Graffiti-Writing-Hintergrund, wie z. B. BANKSY nicht-autorisierte Malereien oder Schriftzüge auf der Straße – eben Graffiti – haben eine längere Geschichte, deren Anfänge hier auch behandelt werden.



In „ILLEGAL. Street Art Graffiti 1960-1995“ hat sich der Street-Art-Experte Ulrich Blanché bereits ab den 50er Jahren mit Vorformen beschäftigt. In der Einleitung beschreibt er sein Vorhaben mit dieser Ausstellung und Publikation: „Es soll hier nicht darum gehen, einen neuen, überarbeiteten Urban-Art-Kanon zu schreiben. Die vorliegende Werkauswahl ist vielmehr ein Angebot, durch Vergleiche, die Untersuchung von Interaktionen und Resonanzen unsere Wahrnehmung von Zentren und Peripheren neu auszurichten. Statt einen neuen Street-Art- oder Graffiti-Kanon, will die folgende Geschichte der Urban Art eher den graffitifreien Kanon der klassischen Kunstgeschichte infrage stellen, zugleich aber auch den der üblichen, US-amerikanisch geprägten Geschichte von Street Art als Post-Graffiti.“ Der Begriff Post-Graffiti steht hier im Zusammenhang mit Street Art, wurde aber auch in den 80er Jahren von Galeristen in den USA für Arbeiten auf Leinwand von Style Writer*innen verwendet. Heute findet dieser Begriff Gebrauch für die Kunst, die von Graffiti Writer*innen vermehrt nach 2000 weiterentwickelt wurde, die sich vom klassischen Style Writing entfernt, teils von Buchstaben gelöst hat und andere künstlerische Ausdrucksformen, Stilmittel und Ästhetiken auf Wänden und Atelierarbeiten aufweist.



In seiner Einleitung macht Blanché vorerst Differenzierungen zwischen Graffiti, Style Writing/Hip-Hop Graffiti, Street Art und Urban Art, um dann eine kurze Geschichte der Urban Art ab 1960 zu erzählen. Dabei nennt er einige Pioniere aus Frankreich, die Anfänge von ungenehmigter Kunst im Stadtraum, die ersten Tags und Graffiti Pieces in den USA und deren Weiterentwicklungen und Ausprägungen in Europa ab 1983. Es folgen Erläuterungen über die Street-Art-Pioniere und ihre Nachfolger, sowie über die letzte analoge Generation aus den 90er Jahren, wie z. B. auch BANKSY. Doch der Kunsthistoriker Blanché geht noch weiter zurück in der Geschichte: frühe Street Art als Kunst von 1952 bis 1974 und der Bezug zur Entdeckung von Graffiti im Sinne von Schriftzügen, Kritzeleien und Bildern auf urbanen Oberflächen durch Künstler der Moderne. Dieses Graffiti diente manchen modernen Künstlern als strukturelles Vorbild für Kunst. Brassaï, Picasso, Desnos, Leiris, Prévert u. a. sahen in diesem anonymen Graffiti eine besonders freie, künstlerische Qualität. Das 1960/1961 veröffentlichte Fotobuch „Graffiti“ von Brassaï spielt hier eine besondere Rolle. Auch der Einzug von Graffiti in Kunstinstitutionen ab den 50er Jahren wird hier chronologisch erzählt und ist äußerst aufschlussreich. Die Affichisten in Frankreich, der Slogan „Bird lives!“, der in den USA ab 1955 auftauchte, Slogans von SAMO©, die Figuren von Zlotykamien und die Tags von CORNBREAD werden hier vom Autor auch behandelt, der seit vielen Jahren zu diesem Thema recherchiert.



Die weiteren vier Autoren von „ILLEGAL. Street Art Graffiti 1960-1995“ behandeln weitere Themen. Der deutsche Kurator, Autor und Dozent Johannes Stahl leistet hier einen Beitrag über „Bilder und Worte zu Handschrift, Graffiti und Style Writing“. Er recherchierte und veröffentlichte bereits 1989 und 1990 Bücher zu Graffiti. Die Französin Myriama Idir ist Kulturmanagerin, Kuratorin und Autorin, die sich schon lange mit der Hip-Hop-Kultur und auch Street Art beschäftigt. Sie schreibt hier eine Zusammenfassung über die Ausbreitung von Style Writing in der Grande Region im Osten von Frankreich und Westen von Deutschland und die frühen Vernetzungen mit US-Pionieren. Bestimmte Regionen Deutschlands an der Grenze zu Frankreich, wie auch das Saarland, wo die Ausstellung nun mal stattfindet, bekommen hier einen besonderen Fokus. Zudem werden auch Akteure aus Luxemburg und Belgien erläutert. Deutsche Pioniere aus München, Hamburg und Berlin werden hier ebenfalls kurz genannt. In Berlin wird der Bahnhof Friedrichstraße als Hall of Fame bezeichnet, anstatt als Writers Corner: der Treffpunkt der Writer*innen zwischen 1989 und 1996, bekannt als Corner Friedrichstraße. Der Begriff „Spraywerke“ erscheint im Text über Style Writing in Lothringen für Graffiti Pieces an der Line, ein unüblicher Begriff, der etwas schmunzeln lässt und daran erinnert, dass neue Begriffe in diesem Themenfeld immer wieder hier und da in Texten auftauchen. Meist werden diese von Außenstehenden, von Theoretiker*innen erfunden, und nicht von den Kunstmacher*innen selbst.



Der folgende Text über Gender in Graffiti und Street Art von Ulrich Blanché ist sehr aufschlussreich und erwähnt bekannte und unbekanntere Writerinnen, die bisher kaum in Fachliteratur vorkommen, wie z. B. Vampirella aus Holland oder die Street-Art-Künstlerin Jane Baumann, die in den 70/80er Jahren in NYC Schablonenbilder sprühte.



Autor und Kunstkritiker Jacob Kimvall aus Schweden war selbst Graffiti Writer als Teenager und veröffentlichte schon in den 90er Jahren ein Graffiti-Magazin. Er nimmt in seinem Beitrag die Kunst des Style Writing als Grafikdesign und Marketing in der Musikindustrie unter die Lupe. Abbildungen von Plattencovern, die von Writern entworfen wurden und selten veröffentlicht wurden, veranschaulichen diesen parallelen Tätigkeitsbereich einiger Graffiti Writer, die sich beruflich als Grafikdesigner orientierten.



Der Autor Sven Niemann mit dem Beitrag „Wissenschaftliche Perspektiven auf den Phänomenbereich politisches Graffiti“ ist auch sehr aufschlussreich. Niemann beschränkt sich hier mit Beispielen auf einige Städte in Deutschland. Als Research Associate für Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft/Germanistische und allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Paderborn, sind hier vor allem Beispiele aus Paderborn, Mannheim und Köln abgedruckt.

Es folgen weitere spezifische, gut recherchierte Texte von Ulrich Blanché zu bestimmten Künstler*innen. Über die eher unbekannten Tagerinnen – Namewriting-Urheberinnen Barbara62 und Eva62 in NYC in den 70/80er Jahren, über Arbeiten des SAMO©-Duos Al Diaz und Jean-Michel Basquiat und über Keith Haring. Der bekannte, jung verstorbene Street-Art-Pionier aus NYC wurde von dem deutschen Kunsterzieher Klaus Wittmann schon 1981 in NYC entdeckt, der sich damals an das Kunstmagazin ART wendete, um auf Keith Harings Kunst aufmerksam zu machen. Diese Korrespondenz sowie Archivbilder von Wittmann werden hier zum ersten Mal veröffentlicht.

Die umfassende Publikation endet mit einer Auswahl an Archivbildern von Arbeiten von verschiedenen Akteuren und Akteurinnen aus verschiedenen Ländern. Manche sind sehr bekannt, andere bisher kaum erwähnt. Es sind auch einige Archivfotos abgebildet, die man aus anderer Fachliteratur noch nicht kennt. Aus diesen Gründen ist diese Publikation zur thematischen Ausstellung zum Thema Street Art und Graffiti von 1960 bis 1995 ein sehr wichtiger kunsthistorischer Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte dieses Themenfeldes in der bildenden Kunst.



Informationen zur Ausstellung:
historisches-museum.org/illegal-street-art-graffiti-1960-1995

3D-Scan der Ausstellung

Zur Publikation:

ILLEGAL. Street Art Graffiti 1960–1995
240 Seiten, 24 cm x 30 cm,
Softcover Sprache: Deutsch / Englisch
Herausgeber: Ulrich Blanché
Erscheinungsdatum: Mai 2024
ISBN: 978-3777443591 Verlag: Hirmer

hirmerverlag.de/de/titel-3-3/illegal_street_art_graffiti_1960_1995-2585
hitzerot.com

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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