Skip to main content

Taleggio in Italien: Von Buchstaben zur spielerischen Abstraktion

, by Katia Hermann

Erste Berührung mit Graffiti Writing

Der italienische Maler Taleggio wurde 1991 im Süden Italiens geboren und wuchs auf dem Lande auf. In seiner Familie war die Kunst allgegenwärtig. Sein Großvater war Bildhauer und seine Mutter besuchte eine Kunstschule und malte figurative und abstrakte Bilder. Als Kind zeichnete und malte er von Zeit zu Zeit mit seiner Mutter. Im Jahr 1997 zog er nach Brescia im Norden Italiens. Taleggio erinnert sich, dass er dort im Alter von 12/13 Jahren in der Stadt zum ersten Mal Graffiti entdeckte. Im Jahr 2005 ging er in Brescia zur Schule, umgeben von Tags und Pieces auf der Straße. Ab dann begann seine bis heute andauernde Leidenschaft für Graffiti. Er begeisterte sich für Hip-Hop-Musik und war fasziniert von der Kultur und den Styles der Old-School-Writer aus seiner Stadt, von Crews wie HIC und TIA Crew. Er begann sich über Style Writing zu informieren, um die Geschichte dahinter zu verstehen, und ließ sich von NYC-Styles und klassischem Lettering inspirieren. Seine ersten Tags und Pieces begann er 2006, alleine, erst malte er VECA später ZESC. Er malte in den Straßen kleiner Dörfer in der Nähe und in brachliegenden Fabrikgebäuden. Ab 2008 war er Mitglied der TQS-Crew. Er liebte diese Nächte auf der Straße, die Texturen der Wände, das Taggen und Bomben, Momente, in denen er alles andere vergessen konnte und aus denen er Inspiration für Kreativität schöpfte. Entlang der Gleise, auf Güterzügen und den Straßen war er mit seiner Crew einige Jahre lang aktiv.



Seinen eigenen Stil finden

Taleggio’s Stil war anfangs vom Wild Style inspiriert. Ab 2009 begann er Änderungen, kombinierte seine Buchstabenformen spielerischer und verband sie mit einer besonderen Dynamik. Einige Jahre später interessierte er sich mehr und mehr für den Anti Style. Der Film „Dirty hands“ aus Paris, die RCV-Crew in seiner Stadt, Styles aus dem Punk aus Nordeuropa, Graffiti aus Prag und Stockholm beeindruckten ihn nachhaltig. Ekta aus Schweden, Jeroen Erosie aus den Niederlanden, die PAL-Crew aus Paris, Horfee, SAEIO und TOMEK sind einige Writer, die Taleggio heute als Inspirationsquellen nennt.

Ab 2014 verspürte er das Bedürfnis, seine Buchstaben zu vereinfachen und einige figurative Elemente in seine Pieces einzufügen. Er begann, seinen heutigen Writernamen Taleggio zu verwenden und suchte weiter nach neuen Formen, bevor er ab 2016/2017 seine abstrakte Bildsprache entwickelte. Heute sagt Taleggio: „Es war das Beste, was ich tun konnte, die Buchstaben hinter mir zu lassen, sie zunächst zu vereinfachen und keine Pfeile usw. mehr zu verwenden. Ich brauchte dann einfach keine Buchstaben mehr, um zu komponieren, und verwendete einfache Formen und begann von dann an mit Malerei.“
2016 zog er nach Mailand, um an der Technischen Universität Politecnico di Milano Architektur zu studieren. In Mailand war die Graffiti-Szene die dynamischste in seinem Land, er traf dort neue Writer und Muralisten-Gruppen. Das Architekturstudium beeinflusste seinen Stil in Bezug zu Raum und halfen ihm, die Malerei mit einer neuen geistigen Ordnung zu verstehen, die ihm wichtige Impulse für eine neue Ästhetik gab. Beim Besuch der großen Kunstsammlungen in den Mailänder Museen entdeckte Taleggio Werke moderner Maler, die er regelmäßig aufsuchte. Der Futurist Giacomo Balla und der metaphysische Maler Giorgio de Chirico hinterließen bei ihm bleibende Eindrücke. Aber auch spätere Werke des 20. Jahrhunderts von Jean Dubuffet, Jean-Michel Basquiat oder Cy Twombly haben ihn laut ihm umgehauen und ihn dazu gebracht, seine eigene Art zu malen zu überdenken.



Spielerische verflochtene Abstraktion

Ab 2016 entwickelt Taleggio ein gegenstandsloses Alphabet von Formen, die er auf einer gegebenen Fläche anordnet und dabei endlose Ketten von Verflechtungen schafft, immer auf der Suche nach einer besonderen Dynamik und Energie. Dazu verwendet er diverse abstrakte Formen, Flächen, einfache ungleichmäßige geometrische Formen, Muster und Linien. In seinen Kompositionen steht nie ein Element gleichberechtigt neben einem anderen. Sie überlagern sich, stehen spielerisch nebeneinander, verwoben und in Bewegung zueinander. Taleggio schafft durch die Formen und anhand von Kontrasten und Farben ausdrucksstarke, expressive, fröhliche Werke, bei denen das Bild während des Freestyle-Prozesses selbst den Ausgang entscheidet, laut dem italienischen Künstler.



Das Skizzieren ist laut Taleggio für seine abstrakten Arbeiten wichtiger geworden als es damals für das Sprühen von Buchstaben war. Er kopiert seine Skizzen nie an die Wand, sondern sucht in seinen Skizzenbüchern nach Motiven und Dynamiken und baut einige Elemente aus manchen Skizzen in neue Wandbilder ein. An der Wand arbeitet er hauptsächlich Freestyle und entscheidet erst während des Malens, wie die Malerei sich weiterentwickeln soll. Heute benutzt er die Sprühdose so wenig wie möglich und trägt Wandfarbe mit Rollen und Pinseln auf. Seine Werke sind im Laufe der Jahre bunter geworden, wobei er immer noch mit Graustufen anfängt – seine Komfortzone, mit warmen und kalten Grautönen – und nach und nach verschiedene Farben hinzufügt. Taleggio wählt spontan drei bis vierFarben aus und fügt am Ende meist noch ein paar weitere Farben hinzu, Restfarben, die noch passen. Vor einigen Jahren beinhalteten seine Malereien mehr Linien und keine runden Formen. Doch in den letzten zwei Jahren interessiert ihn die runde Form für seine Arbeit und setzt diese spielerisch auf verschiedene Weise ein. Normalerweise fängt Taleggio mit zwei, drei Linien an, malt unregelmäßige Formen darauf, fügt immer mehr einfache Formen in die Komposition ein, frei und spontan, und wie er gerne betont, entscheidet das Bild an einem bestimmten Moment, wie es weitergeht. Alle Wandmalereien von Taleggio haben eine bestimmte Dynamik, die sich überwiegend horizontal ausdehnt, mit einem gewissen Rhythmus und kraftvoller Energie. Taleggio nennt seine Wandmalereien immer noch Piece, auch wenn sie abstrakt sind, denn seiner Meinung nach ist der geistige Ansatz immer noch derselbe wie bei einem Graffiti Piece, auch wenn er schon länger keine Buchstaben mehr malt.



Atelierpraxis und darüber hinaus

In seinem Atelier arbeitet Taleggio anders. Für seine Malerei auf Leinwand beginnt er normalerweise eins nach dem anderen. Doch seit letztem Jahr arbeitet er an neuen Serien und malt mehrere Leinwände gleichzeitig. Das ist für ihn die einzige Möglichkeit, mit demselben Ansatz an einer Serie zu bleiben. Mit Pinseln, Walzen, Airbrush, Wandfarbe, Acryl, Ölpastell und Filzstift verwendet er eine Mischtechnik auf Leinwand, Holzplatten und Papier. Oft muss er lange das angefangene Bild betrachten und nachdenken, um die nächsten Schritte zu finden, um die richtige Balance und Dynamik in einer Komposition zu erreichen. Manchmal braucht er Tage, manchmal Wochen oder sogar Monate, bis er ein Bild auf Leinwand fertiggestellt hat. Seine Skizzen und auch bunten Zeichnungen auf Papier schafft er jedoch weiterhin spontan und zügig. Seine Meinung über ein Bild kann sich aber während des Malprozesses ändern, er betrachtet die verschiedenen Schichten und ist bereit Formen zu verändern, die seine Gefühle in diesem Moment besser widerspiegeln.
Bei all seinen Malerien sucht der italienische Maler nach einem Gleichgewicht oder besser einem Ungleichgewicht, um so Spannung und Dynamik zu erzeugen. Von Zeit zu Zeit zerstört er sogar Gleichgewichte in seinen abstrakten Kompositionen auf Leinwand, schafft „ein Durcheinander“ und muss es dann in einer neuen Ordnung wiederherstellen. Für ihn ist eine abstrakte Malerei fertig, wenn die gesamte Struktur zu einer Art Character wird, auch wenn keine figurativen Elemente zu sehen sind. Seine Kompositionen sollen letztendlich auf ihn wie ein Character, ein Gegenstand oder eine Figur wirken.



Während seiner 20-jährigen Praxis des Graffiti Writing und der Malerei hat Taleggio seine Formensprache, seinen eigenen Arbeitsprozess gefunden, den er selbst nicht als einzigartig, aber als persönlich bezeichnet. Seiner Meinung nach ist es heutzutage sehr schwierig, etwas Neues zu schaffen. Wichtig ist laut ihm, eine eigene Art zu malen und eine persönliche visuelle Sprache zu entwickeln. Ohne Graffiti Writing, sagt Taleggio, gäbe es keine abstrakten Malereien von ihm. Buchstaben waren nützlich, um zu lernen, schnell zu sein, zu skizzieren, sich zu entwicklen, eine eigenen Handschrift, einen eigenen Stil zu finden. Style Writing vermittelte ihm einen kreativen Ansatz und eine Möglichkeit, Kraft zu spüren und zu schöpfen. Dem zufolge war Graffiti Writing der erste Bereich, in dem er sich völlig geben konnte, sich entwickeln konnte und der im Laufe der Jahre Teil seiner eigenen Identität wurde. Darüber hinaus glaubt Taleggio, dass es ihm half, die Realität um uns herum besser zu verstehen.


https://www.instagram.com/_taleggio/


Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

vier × 1 =