„born to graff. Graffiti in Marzahn-Hellersdorf“
Ausstellung bis 5. März 2023, Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr und an jedem ersten Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf, Haus 1, Alt Marzahn 51
Im Sommer 1985 kommt der US-Film Beat Street in die ostdeutschen Kinos. Der Film wird ein wahrer Erfolg und zündet die Hip-Hop-Jugendkultur in der DDR, nachdem diese im Westen mit dem Film Wild Style, der 1983 mit dem ZDF koproduziert und dort ausgestrahlt wurde, zwei Jahre zuvor begann. Beat Street porträtiert zwei Brüder und ihre Freunde, die in der Bronx in New York aufwachsen. Sie sind Rapper, DJs, tanzen Breakdance – und malen Graffiti. Der erste erfolgreiche Film Wild Style beschreibt die Geschichte des Graffiti-Künstlers Zoro, die Spannungen zwischen seiner Kunst und dem „realen Leben“ sowie seine Beziehung zu seiner Freundin Rose. Der Film dokumentiert auch das damals schon aufkommende Interesse der Medien und der etablierten Kunst-Szene an der Hip Hop-Kultur.
Durch diese Filme ist die Popularisierung von Breakdance, Dj-ing, Rap, aber auch von Graffiti (style writing) als eine der vier Disziplinen von Hip Hop, weltweit nicht mehr zu bremsen. Eine Graffiti-Szene, die sich in Crews zusammenschließt und auf den Straßen sprüht, bildet sich somit auch im Osten Deutschlands, jedoch erst nach dem Mauerfall. Vorher gab es wohl einzelne Versuche hier und dort. Die großen Bezirke Marzahn und Hellersdorf boten in Berlin in den 1990er-Jahren die perfekten Voraussetzungen: Zahllose graue Betonflächen, kinderreiche Familien und eine Jugend auf der Straße, die nach Perspektiven und Identität sucht.
Die Ausstellung #born to graff. Graffiti in Marzahn-Hellersdorf, initiiert vom Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf, präsentiert in drei Räumen des Haus 1, und kuratiert von Annika Hirsekorn und Niko Dierchen, erzählt die Geschichte dieser Jugendkultur im Bezirk. Fotografien zeigen zahlreiche Graffiti Pieces, die auf Wände im Bezirk, entlang der Bahnlinien und auf Zügen gesprüht wurden. Manche Akteur*innen kommen in Texten, Hör- und Videostationen zu Wort, originale Gegenstände von damals, wie Rucksäcke von Sprayern, Backpieces auf Jeansjacken, Skizzen, Sprühdosen, Schallplatten und Mixtapes, lassen den Zeitgeist der 1990er-Jahre wieder aufleben. Spezifische Begriffe wie z.B. Trasher (ausgemusterte Bahnwaggons mit Graffiti) werden auf Schildern erläutert, erklärt und aufschlussreiche Texte auf großen Tafeln begleiten die Besucher*innen durch die Ausstellung.
Anfangs malten die Jugendlichen im Osten mit Schuhcreme, denn es gab keine Dosen zu kaufen. Doch damit kamen sie nicht weit. „Die Bilder verschwanden im Regen – die Schuhcreme hielt nicht“, erinnert sich CORÌNT der Crew MIC aus Prenzlauer Berg, zu hören in einer Audio-Station in der Ausstellung. Dass der Ausstellung ihren Namen gebende Schriftbild „Born to Graff“, ein Piece von MIC, war an einer Wand am S-Bahnhof Greifswalder Straße gesprüht – wohl eines der ersten Graffiti Pieces Ostdeutschlands. Laut Zeitzeugen war das erste Graffiti Piece im Marzahn wohl ein „OZON“, doch ein Foto davon fanden die Kuratoren bei ihren Recherchen leider bisher nicht.
Der Sprüher CORINT erzählt, wie er mal von der Polizei angesprochen wurde, während er malte. Doch Graffiti waren da noch nicht illegal, die Polizisten wussten nicht, wie sie reagieren sollen, ob es politisch gemeint war oder nicht. „Ich bin noch nicht fertig“, antwortete er und wurde in Ruhe gelassen. ROSKO erzählt in einem Interview, dass er zu seinem zehnten Geburtstag Autoreparaturlack-Dosen von seinen Eltern geschenkt bekam. Er sprühte damit ein Herz an eine Laterne. Es gab damals nur 25 verschiedene Farben von diesem Lack des VEB Aerosol-Automat. Sie waren allerdings extrem schwer zu bekommen.
Gegen die Trübsal im Alltag sprühten die Jugendlichen, erzählt einer. Er meint damit die graue architektonische Umgebung in Marzahn und Hellersdorf: hohe Plattenbauten, viele graue Wände. Ähnlich sieht es auch Janek an einer weiteren Audio-Station in der Ausstellung: „Marzahn hatte einen ganz bestimmten Charme an Architektur. Sein Kumpel wohnte in einer Wohnung, die genauso geschnitten war wie die von Janeks Eltern. „Er hatte sogar ein Bild in genau der gleichen Ecke hängen wie ich. Graffiti bedeutete für uns, aus dem System auszubrechen.“ Tatsächlich bot der Bezirk beste Voraussetzungen: Neben den Hochhäusern gab es auch lange Wände entlang der S-Bahn bis zum Ostkreuz. „Marzahn war unglaublich groß, es gab viele Bahntrassen, man konnte relativ anonym in der Masse untergehen“, sagt Janek. Eine Zeitschiene in der Ausstellung zeigt, wann welche Crews im heutigen Marzahn-Hellersdorf unterwegs waren. Die ersten werden 1991 aufgeführt und hießen ABDE Boys, BAM und GCK (Ghost City Kids) oder FMS (Family Shit). Zu den ältesten überregional bekannten Crews aus Marzahn-Hellersdorf zählt LOFD, die 1993 gegründet wurde und bis heute legendär ist. MRN (Marzahn) tauchte erst 1994 auf, machte sich dann aber auch einen Namen in der Szene, bekannt für ihre großen Bombings. Ihre Mitglieder hießen u.a. Alive, Chill, Kamel, Hopsa, Rebel. In den 90er Jahren kamen auch andere Crews nach Marzahn und machten den heimischen ihre Wände streitig. Die 90er Jahre waren in Deutschland und besonders in Berlin eine Zeit des Umbruchs, der Verunsicherung. Aussichtslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt waren präsent und politisch-orientierte Gangs von Neonazis, Linksradikalen u.a. machten die Straßen von West- und Ostberlin teils unsicher, vor allem für Jugendliche.
Die Macher*innen Annika Hirsekorn und Niko Dierchen dieser gut recherchierten Ausstellung arbeiteten eineinhalb Jahre an diesem Projekt, wobei wichtige Vorarbeit schon mit der vorherigen Ausstellung 2020 „Klassentreffen Ost“ in der Neurotitan Gallery Berlin von Niko Dierchen geleistet wurde, der in den 90er Jahren selbst Sprayer und heute Tattookünstler ist. „Klassentreffen Ost“ zeigte vor allem Fotografien von 1990 bis 2000 von Graffiti in ganz Ostberlin. Für dieses Projekt bzgl Marzahn-Hellersdorf, mussten sie ihr bestehendes Archiv, sowie andere private und Marzahner Sammlungen durchforsten und sprachen mit 20 Protagonisten von damals. Zudem wurde die Vorgeschichte zum Thema Hip Hop in der DDR hier aufgearbeitet, um die Ausgangssituation mitzuerzählen. In Berlin wurde zum Thema 2018 die Fotoausstellung SORRY!, später in Brüssel als Berlin:Writing Graffiti gezeigt, die versuchte einen Überblick der Entwicklung von Graffiti in ganz Berlin von 1983 bis heute, mit dem Wandel der Stadt über vier Jahrzehnte zu schaffen. Unter den 600 Exponaten gab es allerdings mehr Archivmaterial aus West-Berlin. Vielleicht wäre es mal an der Zeit alle Archive zusammenzuführen und eine große umfassende Themenausstellung in Berlin in einem größeren Haus zu zeigen, wie es z. B. Hamburg aktuell macht: Das Museum für Hamburgische Geschichte im Jahr seines 100-jährigen Jubiläums zeigt stolz die Ausstellung EINE STADT WIRD BUNT (basierend auf dem 2022 erschienene Buch) und definiert Graffiti/Style Writing im Hip Hop-Kontext als eines der spannendsten Kapitel der jüngeren Kulturgeschichte. Berlin mit dem Ruf als Graffiti-Hauptstadt und einer Fülle an interessanten historischen sowie stilistischen Entwicklungen im Style Writing wäre per se die (Kultur-)Stadt für eine große Themenausstellung zur 40-Jahre alten Subkultur, Phänomen, Bewegung oder auch Kunstform Graffiti/Style Writing in ganz Berlin..
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