SEMOR THE MAD ONE: Über Inspiration, Freiheit und 25 Jahre gelebte Graffiti-Geschichte
Prolog: Die Basel-Line
„Mit zehn oder zwölf Jahren hab ich mir ein Wochenendticket gekauft und bin in die Schweiz gefahren – denn ich hab gehört, dass die Basel-Line die bunteste Bahnlinie der Welt ist. Meiner Mom hab ich damals erzählt, ich penn bei einem Kumpel. Ich bin dann in Basel ausgestiegen und irgendwoher wusste ich, dass ich eine Warnweste anziehen muss. Ich hatte meine Kamera und ein riesen Paket Filme dabei, alles analog natürlich, und so bin ich die Bahnlinie abgelaufen und hab alles abfotografiert, was ich einfangen konnte. Dare-Pieces. Toast. Dream. Die ganze TWS-Crew. Klick – klick – klick. Den ganzen Tag. Über Nacht hab ich mich dann in einem Bahnhof einquartiert und am nächsten Tag bin ich eine andere Linie zurückgelaufen. Und dann wieder zurück mit dem Zug nach Hause. Am Ende hatte ich bestimmt 30 Filme verknipst. Unfassbar teuer. Doch als die Fotos dann endlich entwickelt waren, ich musste ja gefühlt fünf Wochen warten, da hab ich das sooo zelebriert. Ich hab mir ne Cola geholt und jedes Fotos nacheinander angeschaut. Geil, geil, geil. Da war ich! Absoluter Backflash! Die Fotos hab ich immer noch. Also das war Graffiti für mich und von da an wusste ich, da willst du dabeibleiben.“ – Semor
Graffiti-Maler, Dozent, freier Künstler
Dabei (geblieben) ist er nun seit mehr als 27 Jahren. Hat vieles ausprobiert, sich weiterentwickelt und ist niemals stehen geblieben, wobei das pure Straßengraffiti nie so ganz sein Ding war. „Ich bin halt auf dem Land groß geworden, da war das irgendwie kein Thema. Dennoch finde ich es schön anzusehen“, so Semor. Irgendwann habe er sich dann mehr für den legalen Weg entschieden – und ist innerhalb dessen heute breit aufgestellt: So hat er nicht nur seinen eigenen Style entwickelt, sondern gibt Workshops, malt die ein oder andere Auftragsarbeit und ist im Atelier aktiv. Und auch als Dozent an einer Kunstakademie arbeitet er. Irgendwie habe sich alles dahingehend entwickelt, er war nie so der Mensch, der das mit Nachdruck gepusht bzw. aktiv beworben hätte. Vielmehr habe sich immer das eine aus dem anderen entwickelt, erzählt Semor. Dabei spielten sicherlich Zufälle eine Rolle, aber auch die bewusste Auswahl an Projekten trug zu diesem breitgefächerten Fundament bei. „Und irgendwie, wenn ich ehrlich bin, war es immer mein größter Traum, einmal davon leben zu können“, so der Künstler. „D.h. auch wirklich freie Arbeiten machen zu können. Das ist doch genau das, was jeder will. Klar, wenn man realistisch ist, dann weiß man auch, dass das nicht klappt bis man 60 ist. Aber ich liebe einfach die Atelierarbeit. Deswegen liegt mein Fokus mittlerweile eben auch darauf. Ich liebe es einfach, hier so in meinem Kämmerlein zu sein, zu arbeiten und neue Dinge auszuprobieren. Also nicht zwingend neue Techniken, aber einfach nochmal die Dose als anderes Werkzeug zu nutzen.“
Atelierarbeiten: „FluorSeries“
Was seine Atelierarbeiten betrifft, so hat er sich mittlerweile ein klares visuelles Wiedererkennungsmerkmal geschaffen. Semors Arbeiten spielen mit abstrakten, mitunter raumumspannenden Kompositionen, mit nuancenreichen Überlagerungen sowie teils gebrochenen geometrischen Formen. Innerhalb dessen tariert der Künstler nicht nur verschiedene Perspektiven gegeneinander aus, sondern experimentiert mit verschiedenen Materialien und setzt dabei immer wieder visuelle Kontrapunkte. Monumentale Farbflächen treten in Dialog mit typografischen Ausgestaltungen und filigranen Linienführungen und verschmelzen letztlich zu einem harmonischen Ganzen.
Gleichzeitig arbeitet der Künstler innerhalb eines fest definierten Farbspektrums. So nutzt er verschiedene Grautöne und kombiniert diese mit Schwarz, Weiß und fluoreszierendem Rot – mitunter deshalb heißt seine aktuelle Serie auch „FluorSeries“. Das Neon-Rot wirke für ihn dabei wie ein Textmarker, so der Künstler: „Man hebt mit der Farbe bestimmte Momente oder Bildteile hervor. Manchmal möchte ich damit etwas betonen, manchmal aber auch eher von etwas ablenken. Es ist beides irgendwie.“ Das Interessante liegt für ihn vor allem in der verschiedenen Deckkraft der Farben und dem daraus resultierenden Spiel von Transparenz und Opazität. Da Neon-Töne per se keine deckenden Farben sind, ergibt sich auf diese Weise eine spannungsgeladene Komposition von Ebenen, Schichten, Strukturen und überlappenden Flächen-Formen. „Irgendwann weißt du eigentlich gar nicht mehr, welche liegt jetzt eigentlich wo drüber? Und das finde ich das Spannende daran. In erster Linie ist es für mich immer ein Experiment. Und das Tolle daran ist, dass ich halt super selbstbestimmt bin, in dem, was ich tue. Das ist pure Freiheit.“ Und er fügt hinzu: „Und genau das hat auch Graffiti immer für mich bedeutet. Deshalb gehört für mich beides immer noch so stark zusammen – auch wenn es sich bei meinen Atelierarbeiten natürlich nicht um Graffiti im klassischen Sinn handelt, es sind ja keine Buchstaben“, so Semor. Dies mag mitunter eine Erklärung dafür sein, warum Semors ‚fluoreszierender Gestaltungsdrang‘ vor seiner Ateliertüre keinen Halt macht und auch nach draußen greift.
Stylewriting
Und dieses ‚Nach-draußen-Greifen‘ ist nur ein logischer Schluss. Denn im Grunde genommen, verhält es sich bei Semors abstrakten Atelierarbeiten ähnlich wie im Graffiti. „Ich plane nichts. Es ist alles Freestyle. Alles, was du von mir an einer Wand oder vielleicht auf anderen Medien siehst, ist komplett Freestyle. An der Wand zu stehen, ein Bild zu skizzieren, mit Dose in der Hand und vollem Körpereinsatz; einfach im Hier und Jetzt zu sein. Das ist pure Freiheit für mich. Und ich finde, bei abstrakter Malerei ist das genau dasselbe“, erklärt Semor. Deshalb hätten beide Erscheinungsformen für den Künstler mittlerweile auch denselben Stellenwert, denn das eine wäre nicht ohne das andere zu denken.
Schaut man sich Semors Styles einmal genauer an, so fällt auf, dass auch diese von abstrakten Formen sowie Buchstaben geprägt sind – dennoch hat auch er eine lange Entwicklung hinter sich, hat vieles ausprobiert und nie aufgehört, zu experimentieren. „Irgendwann, so um das Jahr 2013, wurde es dann grafischer“, expliziert Semor. „Ich war in Dänemark, hab mit ZOER, DAIS, Velvet und Storm gemalt und da war dann wirklich der Punkt, wo wir alles sehr grafisch aufgebaut haben.“ Und diesen Einfluss spürt man bis heute. So sind seine Pieces bis heute von enormer kompositorischer Übersicht geprägt und vereinen abstrakte, grafische Formen und Strukturen mit typografischen Extravaganzen. Filigrane Linien treffen auf ausufernde Farbflächen, messerscharfe Outlines auf nebulöses Fading, abstrakte Buchstaben auf flächendeckende Strukturen – wodurch eine starke bildinhärente Spannung erzeugt wird. Dennoch weist Semor darauf hin, dass sein Style sich mittlerweile wieder ein bisschen mehr ‚in Richtung Graffiti‘ entwickle, denn vor ein paar Jahren habe er damit angefangen, z.B. auch wieder kleine Throw-Ups miteinzubauen. Im Endeffekt ist sein Stil dominiert von einem Mix aus verschiedenen Styles, nicht willkürlich gedacht, sondern vielmehr minutiös aufeinander abgestimmt. Ein überproportionierter Buchstabe vorne, ein filigran wirkender hinten; eine offene Form hier und ein grafisches Element dort – und dennoch passt alles perfekt zusammen. Es handelt sich folglich mehr um eine Komposition aus Buchstaben, Formen, Ebenen und Strukturen und nicht um eine kontinuierliche Handschrift im strengen Sinne.
Und ähnlich intuitiv verhält es sich auch bei der Farbwahl. So gibt es kein fest definiertes Farbkonzept, kein streng durchgetakteter Fahrplan. Vielmehr entsteht alles vor Ort – situativ – „und ist mehr so ein Tagesform-Ding. Manchmal hab ich halt Bock auf Türkistöne, mal mehr auf Olivtöne und manchmal kann es auch eine ganz wild gemixte Combo sein“, so Semor.
Malprozess: zwischen Experiment und Expertise
Der Malprozess besteht für ihn hierbei aus einem permanenten Austarieren zwischen Spontaneität und Durchkomponiertheit, zwischen Experiment und Expertise, zwischen Impulsivität und Detailverliebtheit sowie zwischen ‚schnell‘ und ‚langsam‘. Wobei das Intuitive definitiv ein Grundpfeiler von Semors Arbeitsprozess darstellt, weshalb auch der Fehler, das Scheitern, einen konstitutiven Part in seiner Arbeit einnimmt. „Scheitern ist supergeil und superwichtig. Wenn ich mal einen Fehler mache, dann raste ich nicht aus – im Gegenteil, das wird dann halt benutzt, wieder eingebaut. Manchmal sieht man es gar nicht mehr, oder es wird genau betont. Weil viele Dinge, die unabsichtlich passieren, darauf musst du dann halt reagieren. Ist wie im normalen Leben auch, es geht nicht immer geradeaus“, gibt Semor zu bedenken. Diese Einstellung erklärt mitunter auch, weshalb der Künstler neuen Herausforderungen und Kollaborationen sehr offen gegenüber steht und Graffiti nicht als reines ‚Ego-Ding‘ begreift. Er expliziert: „Graffiti-Maler sind größtenteils Egoisten. Die wollen ihren Namen malen. Links und rechts noch Platz haben. Fertig. Und ich war immer schon jemand, der Lust hatte, Styles auch zu mischen, mit anderen zusammen zu arbeiten. Ich fang hier an, da kommt der Nächste. Ich bau hier was ein, dann kommt da was hin, etc. Und am Ende hast du ne richtig geile Wand. Du glaubst gar nicht, wie vielen Leuten das auch schon gut getan hat. Ich sag dann immer ‚Ey, lass doch einfach mal machen. Du malst 50 geile Bilder, dann kann im Zweifel doch auch mal eins Scheiße sein. Ist doch egal.‘ So muss das, meiner Meinung nach, funktionieren. Einfach mal zusammenwürfeln. Spontan die Situation annehmen und dann gucken, was sich daraus machen lässt. Am Ende entsteht da auch ein ganz anderer Austausch. Und man muss lernen, sich zurückzunehmen“, erläutert Semor.
Herzblut, Ausdauer und Routine – oder: ‚einfach mal den Stecker ziehen‘
Dieser Prozess sowie das langjährige und unermüdliche Erkunden neuer Terrains sind es auch, die Semor innerhalb seines Schaffens an zentrale Stelle rückt. Denn nur durch langjährige Erfahrung und permanentes Austesten lässt sich auf Dauer so etwas wie ein eigener, gefestigter Style entwickeln – was nicht heißt, dass dieser sich im Laufe der Zeit nicht auch verändern kann bzw. muss, ganz im Gegenteil. „Ich bin jetzt 39. Und viele in meinem Alter, die jetzt auch schon so locker 20 bis 25 Jahre dabei sind, haben halt die Erfahrung. Den Stil, den wir heute malen – jeder ein anderer –daran haben wir jahrelang gefeilt. Wir haben da richtig Herzblut reingepackt und tun das bis heute. Und heute ist es halt fast irgendwie normal geworden, dass man sich da mal ein bisschen nimmt. Und dann da. Und mixt das einfach zusammen“, bemerkt Semor. Dabei geht es genau um dieses Dabei-Bleiben, Dran-Bleiben und Weiterentwickeln, denn „nichts kannst du von heute auf morgen lernen. Nichts. Die Routine kommt später und darauf musst du warten – sonst ist es halt Müll“, sagt Semor. Deshalb rät er den Kids in seinen Workshops auch, ab und zu ‚den Stecker zu ziehen‘ und sich mit analogen Dingen zu beschäftigen. Denn Inspiration findet sich überall – auch oder gerade im Alltäglichen. Sich Inspiration im Netz zu holen, sei zwar völlig ok, doch alles nur noch online zu machen (zu konsumieren, wahrzunehmen, zu erleben etc.), dabei gehe einiges verloren. „Ich glaube, die Kids, die eher auch mal analog arbeiten, kriegen eine andere Wertschätzung vermittelt; sind gefestigter, in dem, was sie tun“, so Semor. „Hast du schonmal versucht, einen Schatten von einem Buchstaben mit Fineliner auszumalen, der vielleicht 1 mm breit ist? Nach der Hälfte ist der leer und du musst den nächsten Stift suchen. Scheiße – kein Schwarz mehr da. Das waren die Prozesse, die wir früher hatten. Auch so dieses Rumtüfteln. Das hast du im Digitalen gar nicht mehr und ich glaube, das sind wichtige Prozesse. Und wenn ich heute Leute mit nem iPad in der Hall sitzen sehe, dann ist für mich halt komplett vorbei“, verdeutlicht Semor.
Gleichzeitig sei es natürlich auch so, dass ‚wir‘ – also unsere Generation – diejenige sei, die Facebook, Instagram und Co erfunden habe. Die Jugendlichen seien nur diejenigen, die als Digital Natives aufwachsen und die neuen Medien als solche nutzen würden. In dieser Flut an Informationen und diesem visuellen Overload falle es natürlich auch zunehmend schwer, sich zurecht zu finden und seinen eigenen Style zu entwickeln. Diese Tatsache erkennt auch Semor fraglos an und konstatiert: „Ehrlich gesagt, ich möchte heute nicht groß werden, weil du hast ja so einen Druck. Dir wird ja permanent vorgespielt, du müsstest jetzt Content liefern, sonst rutschst du im Ranking wieder ab und wirst nicht wahrgenommen. Das ist alles viel zu viel. Viel zu krass!“
Ein „Super-Bad-Boy“ in Köln
Bei aller Bodenständigkeit ist es für Semor dennoch so, dass es ihn schon auch reizt, seinen Namen ab und zu auch noch irgendwo anders zu sehen als nur auf der Wand – auch wenn sein Augenmerk nie darauf gelegen habe. Am ehesten zurückzuführen ist dies wohl auf eine Mischung aus Adrenalin-Kick und dem Verbringen von Zeit in guter Kompanie. „Und am Ende trinkt man halt noch n Bierchen zusammen“, ergänzt Semor. „Man fragt sich natürlich schon manchmal, warum macht man das eigentlich. Aber ja, is halt schon auch irgendwie geil. Es hat halt so angefangen.“
Mit einem kleinen Augenzwinkern betrachtet, mag dieser Umstand auch als Erklärung dafür dienen, warum Semor vor einem Jahr bei der Berliner Crew „Super-Bad-Boys“ aufgenommen wurde – und er fügt hinzu: „denn ich kann dir sagen, wir sind alle voll baaaad“ [lacht]. Doch auch wenn Semor gerne in Berlin ist, dort ‚seine Jungs‘ besucht und auch den ein oder anderen Job malt – mindestens genauso gerne kommt er auch wieder nach Köln zurück. Denn Köln war schon immer seine Anlaufstelle und hat sich mittlerweile zu einem festen Lebensmittelpunkt entwickelt. „Ich mag Köln einfach. Ich hab Köln schon immer als sehr entspannt empfunden. Auch als ich hier noch Skateboard gefahren bin. Ich hab das Gefühl, jeder kommt mit jedem eigentlich immer ganz gut klar. Auch die legale und die illegale Szene kommen ganz okay miteinander klar; es hat auch immer schon Überschneidungen gegeben. Ich bin gerne hier, denn viele sind total schön spontan. Ja, ich will hier eigentlich auch nicht mehr weg“, so der Künstler.
Und das Gute ist: Muss er auch nicht. Denn mittlerweile hat sich Semor in Köln ein breites Standbein aufgebaut, ist ein gern gesehener Dozent und kann als freier Künstler und Graffiti-Maler (über)leben. Und wie könnte man diese Entwicklung abschließend besser beschreiben als mit den Worten des Künstlers selbst? Ich zitiere folglich ein letztes Mal: „Geiles Leben. Das ist einfach so ein Geschenk. Es ist nicht selbstverständlich für mich, dass das so ist. Denn ich habe es auch schon anders kennengelernt, früher, als ich noch ‚regulär gearbeitet‘ habe. Deshalb liebe ich es auch so. Einfach frei arbeiten zu können, das ist so ein Geschenk“, reflektiert Semor seinen Werdegang.
spruehflaschendunst.de
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