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Kühne Soloshow “FRI | Vol. 2” von Rocco und seine Brüder

, by Katia Hermann

Alter Wartesaal in Herne, 12.05.2019 bis 8.06.2019


In Herne, im Herzen des Ruhrpotts, nicht weit von Bochum, zeigen Rocco und seine Brüder aus Berlin ihre nun zweite Solo Show “FRI | Vol. 2”. Seit 2017 ist der Alte Wartesaal im Herner Bahnhof als viertes Standbein des Emschertal-Museums eine interessante Ergänzung. Mit mehreren Ausstellungen im Jahr wendet sich der Alte Wartesaal vor allem an ein jüngeres Publikum, und dies auch mit Veranstaltungen wie Lesungen, innovativen Theaterproduktionen oder kleinen Konzerten.

Der Titel der Ausstellung “FRI | Vol. 2” liest sich phonetisch „frivol“ und könnte sarkastisch-metaphorisch die „leichtfertigen, bedenkenlose Kunstaktionen“ des Kollektivs im öffentlichen Raum anspielen.

Mit 170 m2 ist der große ehemalige Wartesaal mit seinem hohen Holzgewölbe, dem unverputzten Mauerwerk und seiner industriell geprägten Ambiente die perfekte Location für das Berliner Künstlerkollektiv. Ein Wartesaal im Bahnhof. Züge, Schienen, sowie der Untergrund sind schon lange Teil des Universums von Rocco und seine Brüder. Das bezeugt auch die neue Arbeit aus original-Schienen samt Steinen aus einer Berliner U-Bahn, die man aus dem Video „Exchange“ kennt, und hier vor einem großem Bild in zwei Leuchtkästen stehen. Dabei handelt es sich um ein farbiges Actionfoto einer Bemalung in einer U-Bahn-Station in Berlin. Ein junger Mann von hinten fotografiert steht in den Gleisen und hängt einen schwarzen Rahmen an die bemalte Wand. Auf einem Monitor neben der Installation sieht man ein Videostill der ganzen Bemalung. „Art in a frame is like a bird in a cage“ steht neben der Bemalung an der Wand und ist ein Aufruf an die Kunst sich vom klassischen rechteckigen Rahmen zu befreien. Aus einem schwarzem Rahmen/Loch ist bunte Farbe rundum weitläufig gespritzt, sprengt quasi den Rahmen und erinnert durch den Effekt und Farbpalette an Katharina Große, die als Malerin für ihre mit Pistole gespritzten Farb-Raum-Installationen bekannt ist. Der Effekt dieser Aufnahme, in Proportion zu den Gleisen aufgezogen, schimmert mit den knalligen Farben im Leuchtkasten, der Pop des Bildes konfrontiert mit der Wucht der dunklen Gleise, mit Farbklecksen wie aus dem Bild entsprungen besprenkelt, kreiert einen Kontrast und eine visuelle Verstörung. Und doch passt es thematisch zusammen.

In der Mitte des Wartesaals steht ein verschrottetes, blau-graues Polizeiauto, zusammengedrückt wie aus der Schrottpresse. In dem original Blaulichtbalken auf dem Dach laufen LED-Laufschriften, man liest unter anderen die Wörter STOP, BITTE, POLIZEI in verschiedener Anordnung. Das Nummernschild des Polizeiautos trägt die seltsame Nummer BKA 1312, die Zahlen 1312 stehen wohl jeweils für die Buchstaben der Abkürzung ACAB.

Drei bereits veröffentlichte Videos laufen auf Monitoren in der Ausstellung. Der ARTE Beitrag „Streetatelier“ über Rocco und seine Brüder, sowie das Video der Aktion RIPMARK, das hier mit der dazu gehörenden Installation präsentiert wird. Die für Primark typischen Papiertüten, hier mit dem Logo Ripmark, sind umgestülpt platziert und erinnern an ein Grabsteinfeld. In seiner Mitte ein Kinderwagen mit Kindersarg verweist auf die vielen auch jungen Opfer, die damals bei dem Fabrikeinsturz von Primark 2013 in Bangladesch ums Leben kamen. Beim dem dritten Video handelt es sich um „Eine blau-braune Weihnachtsgeschichte“, ein kleiner Scherz der Künstler zu Weihnachten an die AFD- Partei in Berlin.

In der Nähe steht ein großes Kartenhaus aus aktuellen AFD-Wahlplakaten. Es wirkt solide und ist doch als Bild eines Kartenhauses fragil. Das dokumentarische Video zu dieser Installation wurde erst nach der Ausstellungseröffnung im Netz veröffentlicht. Man hört die Stimme einer angeblich kritisierenden Passantin und sieht die Aktion der Abhängung der AFD-Wahlplakate.

Ein großes LED-Laufschriften-Schild hängt weit oben im Wartesaal und übertrumpft den ganzen Raum. Man liest verschiedene Kommentare, wie z.B. „Diese linken Spinner scheinen sowas von schrankenlos blöd zu sein, dass sie einem fast schon wieder leid tun. Fast wünscht man sich mal wieder eine Abteilung der SA, die diese linken Spinner nach alle Regeln der Kunst so richtig aufmischt.“ Die meisten Kommentare stammen wohl von AFD-Anhängern und Neonazis, die an Rocco und seine Brüder in Posts in den sozialen Netzwerken gerichtet wurden. Und es sind einige verachtende Hasskommentare, die wie auf einer Werbe- oder Informationstafel hier in der Ausstellung vorbeiziehen.

Einmal wieder spielen Rocco und seine Brüder für ihre Installationen mit sozialpolitischen Themen und provokativen Darstellungen, durch die Verwendung von Gegenständen, die symbolisch für ein System stehen. Ob es das politische System ist mit aufkommenden rechten Parteien im Wahlkampf, das System bewaffnetes Exekutivorgan eines Staates, die Polizei, oder das System der ausbeuterischen Textilindustrie, die Menschen das Leben kostet. Es sind wie Hinweise auf Ungerechtigkeiten, Gefahren und möglichen Machtmissbrauch bestimmter Organisationen. Einzig die Installation der Gleise und der Fotografie im Leuchtkasten ist unpolitisch, sondern eher eine persönliche Anspielung auf die Aktionen im Untergrund und mit das ästhetischste Werk in der aktuellen Ausstellung.

Das Berliner Künstlerkollektiv mit Wurzeln im Graffiti Writing ist seit 2016 bekannt für Installationen im öffentlichen Raum, dessen Prozesse wie eine Performance filmisch begleitet werden, und somit in Form von meist sarkastischen, bekennenden Videoclips über die sozialen Medien veröffentlicht werden. Ob urbane Intervention, Urban Hacking, Adbusting, Happenings oder Kommunikationsguerrilla, ihre engagierten Kunstaktionen sind perfekt durchdacht, frech und provokativ mit viel schwarzem Humor, die Inhalte sind gesellschaftskritisch und die Resultate in Form von Kurzfilmen oder Installationen, oder beides, künstlerisch wertvoll. Die Adaptation ihrer künstlerischen Arbeit aus dem öffentlichen und filmischen Raum in den Ausstellungskontext, gelingt ihnen im Alten Wartesaal – wie auch auf der Urban Art Biennale dieses Jahr – einmal wieder mit großem Geschick.

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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