Nachruf zur Ausstellung SORRY!
Bekanntes und Unbekanntes aus der Berliner Writing Kultur.
Fotografisch festgehalten von 1983 bis in die Gegenwart.
Text von Katia Hermann und Mark Straeck, November 2018
Inhalt:
Der Ausstellungsort
Das Archiv
Entwicklung der Berliner Writing Kultur
– 80er Jahre
– 90er Jahre
– Nuller Jahre
– 2010 bis heute
– Organisatoren, Fotografen, Leihgeber
Der Ausstellungsort
Die thematische Foto-Ausstellung SORRY! fand vom 1.06. bis 24.06.2018 im Kornversuchsspeicher in Berlin-Mitte statt. Ein chronologischer Rundgang gewährte Einblicke in die Entwicklung der Berliner Writing Kultur im sich wandelnden Stadtraum im Zeitraum von 1983 bis heute.
Der alte Kornspeicher als Ausstellungsort befindet sich direkt an einem Schifffahrtskanal der während der Teilung der Stadt die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin markierte.
Nach dem Fall der Mauer lag das umgebene Gelände jahrelang brach und war ein beliebter Spot für WriterInnen und andere KünstlerInnen. Dessen Spuren bestehen noch heute am Gebäude selbst und aktuell liegt der Kornspeicher inmitten der größten Baustelle Berlins unweit des neuen Hauptbahnhofs sowie dem Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart. Der Wandel und die bewegte Geschichte dieses Stück Berlins machten den Kornspeicher zum idealen Austragungsort für diese eindrucksvolle Themenausstellung.
Das Archiv
Die präsentierten Fotografien und Zeitdokumente aus privaten teils nie veröffentlichten Archiven wurden durch Texte sowie Erzählungen von WriterInnen ergänzt. Alle präsentierten Abzüge der 80er und 90er Jahren wurden durch private, analoge Fotografien ermöglicht. Die Fotografien ab dem Jahr 2000 stammen vorwiegend von professionellen Berliner Fotografen, und zeigen neben den Abbildungen von Pieces im Stadtraum oder auf U-und S-Bahnzügen vor allem wie sich Fotografie künstlerisch mit dem Thema auseinandersetzt, ob analog oder später digital. Komplementiert wird die Fotosammlung durch private Leihgaben von historischen Magazinen, VHS-Videos und alten Skizzen sowie seltenen Siebdrucken.
Die Ausstellung verstand sich als Hommage an die verstorbenen WriterInnen und an die Berliner Writing Kultur ohne den Anspruch auf Vollständigkeit oder Wissenschaftlichkeit erheben zu wollen, zumal sie innerhalb von nur drei Monaten erarbeitet worden ist. Das in der Zeit zusammengetragene Archiv kann somit nur einen Bruchteil einer riesigen Bewegung seit über dreißig Jahren in Berlin darstellen, das jederzeit erweitert werden könnte.
Entwicklung der Berliner Writing Kultur
80er Jahre
Nach den ersten politischen Parolen, illegal gemalten Wandbildern von Agit-Pop-Gruppen sowie alltäglich gesprühten Sprüchen in den 70er Jahren in Berlin, entstanden Anfang der 80er Jahre an der Westseite der Berliner Mauer zunehmend auch gesprühte Bilder.
Beeinflusst vom American Graffiti sowie von WriterInnen aus Paris und Amsterdam, tauchten auch in Berlin ab 1983 die ersten größeren ausgearbeiteten Schriftzüge und Characters vor allem im Märkischen Viertel im Norden Westberlins auf. Zeitgleich entstanden Crews mit vielen Talenten im südlichen Westberlin. Die ersten Züge wurden 1986 angeblich von Touristen und von Berliner WriterInnen aus dem Märkischen Viertel bemalt. Ab 1988/89 fanden dann immer mehr Aktionen statt, um die S- und U-Bahnen der Stadt zu bomben.
Der Fall der Mauer 1989 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte, und vor allem Berlin erlebte durch die Maueröffnung einen wahrhaften Graffiti-Kultur-Boom.
90er Jahre
Die Umbruchphase nach dem Mauerfall schaffte an vielen Stellen in Berlin Freiräume, die für viele Menschen geradezu eine Einladung war, sich im öffentlichen Raum auszuprobieren.
Westberliner WriterInnen sprühten nun auch in Ostberlin, wo eine noch junge Graffiti Szene agierte und sich vernetzte. Man tauschte sich aus, gründete neue Crews und internationale WriterInnen, die in Berlin malten, gaben neue und wichtige Impulse.
Läden für Graffiti Equipment eröffneten, selbsternannte Treffpunkte der WriterInnen Szene, wie der Corner Friedrichstraße, luden zum Austausch ein, zahlreiche Halls of Fame entstanden in West-Berlin sowie an der East Side Gallery und wurden mit aufwendigen Bildern bemalt. Erste Berliner Graffiti Magazine und Videos reflektierten die schnell wachsende Szene. Ein intensiver Austausch begann, Ausstellungsprojekte und aufwendige gemeinsame Wandgestaltungen waren die Folge. Auch rund um die Hip Hop Kultur nahmen Veranstaltungen deutlich zu.
Ein Teil der WriterInnen entfernte sich Ende der 90 er Jahren von der einst subkulturellen Kunstform mit ihren Wurzeln im Hip Hop. Neben dem klassischen Style Writing wurden in dieser Zeit neue Formen entwickelt und schwer zugängliche Stellen im Stadtraum erobert. Um die Geschehnisse zu dokumentieren, verwenden einige Akteure die damalige VHS-Videotechnik. Viele Publikationen sorgten für die Verbreitung von Graffiti Writing und wurden zunehmend wichtiger für das Archivieren und Reflektieren innerhalb der Szene.
Nuller Jahre
Die 2000er waren geprägt von städtebaulichem Wandel, vom Wachsen der Bevölkerung und dem steigenden Interesse der kommerziellen Nutzung des Stadtraums. Berlin wurde Hauptstadt und avancierte zu einem neuen Schmelztiegel.
Zunehmend interessierten sich unterschiedliche KünstlerInnen für den öffentlichen Raum. Eine neue urbane Kunstbewegung breitete sich in bestimmten Kiezen rasant aus. Gemeinsame Aktionen wurden von WriterInnen und diversen KünstlerInnen organisiert und ausprobiert. Der Stadtraum war in dieser Phase ein riesiges Labor für neue Formen der künstlerischen Intervention und Kommunikation. Neue Projekträume, Themenausstellungen sowie Publikationen boten den WriterInnen und bildenden KünstlerInnen interessante und angemessene Plattformen. Der Begriff Urban Art wurde zunehmend für die verschiedenen Ausdrucksformen von zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum verwendet und etablierte sich. Das klassische Style Writing existierte weiterhin und wurde bis zu ungewohnten Abstraktionen und innovativen Styles von manchen Old SchoolerInnen und New SchoolerInnen weiterentwickelt. Style Writing wurde konzeptualisiert oder in dreidimensionale Formen gebracht.
Die sich entwickelnden sozialen Medien trugen zur Verbreitung der Bewegung bei. Bilder vom Berliner Stadtraum mit Urban Art kursierten rund um den Globus und somit wurde auch das Berliner Style Writing neu beleuchtet und als Form künstlerischen Ausdrucks mehr wahrgenommen. Mit der Sichtbarmachung der Szene wuchs das öffentliche Interesse und der Versuch die Graffiti Kultur durch kommerzielle Nutzungen zu vereinnahmen und auch umzudeuten. Viele Berliner WriterInnen fühlten sich durch diesen Wandel gezwungen sich zu positionieren.
2010 bis heute
Gentrifizierung und Spekulation mit Immobilien, die mittlerweile nicht nur zentrale Bezirke, sondern auch immer mehr Außenbezirke betreffen, sind zum Synonym für eine sich verändernde Stimmung in der Stadt geworden und ziehen das Verschwinden von Freiräumen und Brachen mit sich.
Zwischen Mainstream und tiefstem Underground entwickeln sich unterschiedlichste Positionen in der Berliner Szene und die Graffiti Kultur erlebt erneut eine Wandlung. In diesem Kontext gelingt es einer neuen Generation von WriterInnen innovative Akzente zu setzen, die vor allem durch ausgearbeitete und neuartige Techniken bestechen. Parallel dazu arbeiten andere wiederum an der Entwicklung simpler und spontan ausgeführter Buchstabengestaltung, die sich meist an das frühe New Yorker Graffiti Writing der 1970er anlehnen. Diese Pieces ähneln nicht selten abstrakter Malerei und wirken durch ihr naives Erscheinungsbild abgekoppelt vom klassischen Style Writing.
Trotz der Reinigung von Graffiti an öffentlichen Transportmitteln, erreicht das Trainbombing dank einer Professionalisierung in der Vorgehensweise eine neue Blüte. Nicht nur die Aktionen und Orte werden genauer durchdacht sondern auch deren Dokumentation nimmt eine zentrale Rolle ein. Moderne Filmtechniken, zeitgenössische digitale Medien sowie Publikationen führen zu neuartigen Verbindungen zwischen Aktion und Dokumentation. Diese Kombination ergibt ungewohnte Sichtweisen auf den Stadtraum, ihren Akteuren und deren Ausdrucksformen.
In den 2010er Jahren entwickelt sich die Berliner Writing Kultur zu einem besonderen Mikrokosmos, der eine starke und innovative Vitalität in sich birgt, die auch für die internationale Writing Szene ein Anreiz ist die Stadt zu besuchen und ihre Spuren zu hinterlassen. Nicht nur auf bildgestalterischer Ebene, sondern auch auf inhaltlicher Ebene entwickelt sich das Phänomen Graffiti stetig weiter.
SORRY! war ein Projekt von Berlin Art Bang e.V., von Die Dixons in Zusammenarbeit mit Katia Hermann und Mark Straeck sowie mit Kera Christian Hinz für die Gestaltung, ermöglicht durch die freundliche Unterstützung des Kornversuchsspeichers und des Berliner Senats für Kultur und Europa.
Grafikdesign von Knorke.
Fotografen:
Bart van Kersavond, Bernd Feuerhelm, EMMETT E., Hans-Joachim Burmeister, JUST, Jürgen Große, Kevin Schulzbus, Martha Cooper & Ninja K. & 1UP, Peter Hamm, Peter Stelzig, Sascha Blasche und Thomas von Wittich.
LeihgeberInnen der Videos, Siebdrucke, Plakate, Publikationen, Archivbilder, Originalskizzen:
Akim Walta (FHTF), ARTE Creative, Berliner-Mauer-Archiv Ralf Gründer, Frank Senf / Siebdruckwerkstatt Lichtenrade, From Here to Fame/Don Karl, Gió Di Sera / StreetUnivercity e.V., Graffiti Lobby, Katrin Müller, Marco Lauber, Mark Straeck, NEON, SOME und Urban Spree Gallery.
Die AusstellungsmacherInnen möchten sich hiermit ausdrücklich auch bei allen anonym gebliebenen Writerinnen und Writern bedanken, die uns bereitwillig mit Ihren Leihgaben, Archivbildern, Kenntnissen und Geschichten unterstützt haben. Mit Ihrer Hilfe wurde die Ausstellung SORRY! erst möglich gemacht.
1.468 views
Categories
Tags:
Schreibe einen Kommentar